NACHRUF

Fidel Rädle (1935 - 2021)

Im Jahr 1983 erschien in den Fuldaer Geschichtsblättern ein bemerkenswerter Aufsatz über »Das Fuldaer »Elisabeth«-Spiel der Jesuiten von 1575«. Als Verfasser wurde ein Wissenschaftler namens »Eitel Rädle« genannt. Nur selten hat sich der Druckteufel einen so üblen Scherz erlaubt wie in diesem Falle. Im akademischen Zirkus gab es wohl kaum einen >Artisten<, der weniger eitel und weniger Ich-bezogen war als Fidel Rädle. Seine stupenden sprachlichen Fähigkeiten (nicht nur im Lateinischen) wusste er stets hinter humorvoller Bescheidenheit zu verbergen. Die Sehnsucht nach dem universitären Rampenlicht war ihm fremd, Personenkult und Selbstinszenierung schreckten ihn ab.

Sein großes Ansehen in der mediävistischen und latinistischen Szene, welches er bis ins hohe Alter genoss (seit 1993 war er Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften), hat er allein seiner Intelligenz und Sprachbegabung zu verdanken. Die biographischen Stationen sind schnell erzählt: Geboren und aufgewachsen auf der Schwäbischen Alb; nach dem Abitur Studium der Germanistik sowie der Klassischen Philologie zunächst in Tübingen, sodann in München (dort auch Studium der Mittellateinischen Philologie); Prägung durch Bernhard Bischoff. Als wissenschaftlicher Assistent Franz Brunhölzls war er maßgeblich am Aufbau der mittellateinischen Seminare in Erlangen (1964) und Marburg (1965) beteiligt. Nach der Habilitation wurde er im Jahr 1981 nach Göttingen berufen, wo er bis zu seiner Pensionierung (2000) tätig war. -Nackte Daten, die einiges über den Wissenschaftler, doch kaum etwas über den Menschen Fidel Rädle verraten. Und doch sind in seinem Falle beide Sphären außergewöhnlich eng miteinander verbunden. Denn seine Humanität und Herzensgüte, seine Freundlichkeit und sein heiterer Sprachwitz trugen wesentlich dazu bei, dass er junge Studenten, die zuvor noch nie von der Lateinischen Philologie des Mittelalters und der Neuzeit gehört hatten, für das Fach begeisterte und zum Lesen der nachantiken Texte verführte. Er war - ohne diese Rolle bewusst anzustreben - ein Menschenfischer, weil er die seltene Gabe besaß, Studienanfängern das Gefühl zu vermitteln, willkommen zu sein und gemocht zu werden. Seine vorrangige Aufgabe sah er darin, Andere zu ermutigen und ihnen Vertrauen in die eigenen, wachsenden Fähigkeiten einzuflößen.

Als Doktorand Bernhard Bischoffs beschäftigte sich Fidel Rädle - kaum überraschend - mit einem frühmittelalterlichen Thema (»Studien zu Smaragd von Saint-Mihiel«, als Dissertation eingereicht 1967; publiziert 1974), und man kann ihn guten Gewissens der in München beheimateten Karolingischen Schule zurechnen; doch ihm selbst lag es fern, seinen eigenen Studenten und Doktoranden eine vergleichbare thematische, epochale oder konzeptionelle Ausrichtung bzw. Reduzierung vorzugeben. - Er schätzte die gedankliche Freiheit und war offen für alle Fragen und Aspekte der vormodernen Latinität. So hat er sich engagiert um den wissenschaftlichen Nachwuchs gekümmert, aber die Gründung einer eigenen, als Gruppe organisierten Forschungstradition bewusst vermieden.

Fidel Rädle schätzte keineswegs nur die karolingischen Autoren, vielmehr forschte er zur gesamten Latinität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Schon die 1976 in Marburg eingereichte Habilitationsschrift zum lateinischen Ordensdrama des 16. und 17. Jahrhunderts (in veränderter Form erschienen 1979) ist chronologisch wie thematisch denkbar weit von den wissenschaftlichen Interessen Bernhard Bischoffs entfernt. Neben den Karolingern (Otfrid von Weißenburg, Gottschalk von Orbais etc.) und den frühneuzeitlichen Jesuitendramen (diesbezügliche Beiträge sind auf dem Server Res doctae der Göttinger Akademie der Wissenschaften online gestellt und frei zugänglich) findet man in Rädles Œuvre zahlreiche weitere Autoren behandelt: frühmittelalterliche wie Beda und Hrotsvith von Gandersheim; hochmittelalterliche wie Petrus Alfonsi, Walter von Châtillon, Alanus ab Insulis, Petrus von Blois und den Archipoeta; spätmittelalterliche wie Kaiser Karl IV., Jean Gerson und Dietrich Engelhus; humanistische wie Erasmus, Mutianus Rufus, Ulrich von Hutten und Melanchthon; frühneuzeitliche wie Hugo Grotius und Jakob Balde. Andere Beiträge befassen sich mit grundsätzlichen literaturgeschichtlichen Fragen (Allegorese, Parodie, Gattungstheorie, Funktion der Grammatik etc.). Rädles Aufsätze sind stets inhaltlich bemerkenswert und sprachlich geschliffen; theoretischer oder ephemerer Jargon wird in ihnen peinlich vermieden. Zudem merkt man, dass sich das empathische Vermögen des Verfassers keineswegs nur auf Lebende erstreckte, sondern auch auf Tote (und deren Texte). Wie kaum ein Zweiter konnte er sich in die Werke der vormodernen Autoren einfühlen und eindenken (man lese etwa seinen 1999 erschienenen Aufsatz über Hermannus quondam Iudaeus: »Wie ein Kölner Jude im 12. Jahrhundert zum Christen wurde«).

Fidel Rädles umfangreiches Œuvre verrät den Fleiß eines langjährig tätigen Forschers, doch war sein professioneller Ehrgeiz ungleich verteilt: Wenn die Herausforderung darin bestand, einen in kryptischem Latein formulierten Satz zu verstehen, eine korrupte Textstelle durch Konjektur zu emendieren oder eine paläographisch vertrackte Kürzung in einer Handschrift zu entschlüsseln, so konnte er höchsten Ehrgeiz entfalten. Ging es hingegen um seine eigene Person und deren Interessen, so hielt er sich extrem zurück. Zu der heutzutage gerne erhobenen Behauptung, dass akademischer Erfolg das Vorhandensein ausgeprägter Ambitionen und den Einsatz von Ellenbogen zwingend erfordere, kann Fidel Rädle als erfreulicher Gegenbeweis dienen. Auch nach seiner Berufung zum Professor hat er mithilfe seines humanen Wesens und kollegialen Auftretens das Wunder vollbracht, ohne Widersacher zu bleiben (im universitären Feld eigentlich kaum möglich), vielmehr vermochte er herzliche Beziehungen und Freundschaften selbst zu solchen Kollegen zu pflegen, die untereinander recht zerstritten waren. Wenn er gelegentlich im akademischen Milieu bei einzelnen Personen eine gewisse Unkenntnis bezüglich der nachantiken Latinität beobachten musste, trug er diese Ignoranz mit humorvollem Gleichmut (irritiert war er nur dann, wenn sie sich mit Borniertheit verbündete).

De mortuis nil nisi bene. - Selten ist es dem Verfasser eines Nachrufs so leichtgefallen, dieses Motto zu beherzigen. Es wird uns immer eine Freude sein, sich an diese anima candida zu erinnern. Das Sterben ist stets schmerzhaft (und war es auch für Fidel Rädle), im Gedächtnis bleiben sollten uns aber seine Gelassenheit und heitere Mahnung, die kleinen Wirrnisse und persönlichen Eitelkeiten des universitären Alltags nicht allzu ernst zu nehmen. Zu seinem Leben gehörten eben nicht nur großartige wissenschaftliche Leistungen, sondern auch Skifahren, Tennis, Fußball - und natürlich das Abfassen witziger Gedichte (in lateinischer und deutscher Sprache). Seine unpublizierten »Bruchstücke einer Literaturgeschichte in Versen; wider die Tyrannei der Fußnote« enthalten zum Jahr 814 (Tod Karls des Großen) die folgenden lakonischen Zeilen:

Was ist's, daß man in Aachen ächzt,

der Totenvogel Unheil krächzt?

Achtvierzehn, ach, stirbt Karl der Große. -

Und dann herrscht Ludwig (tote Hose!).

Für alle, die ihn persönlich kannten, wird Fidel Rädle immer lebendig bleiben - als Lehrer, als Forscher, als Mensch.

Thomas Haye